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Kerze (animiert)

Jemandem eine Kerze hinzustellen, ist ein Akt der Achtung. Wenn jemand sein Leben lang immer beide Seiten der Kerze anzündet, verschleißt es sich. Davon ist bei einem Jahrgang 1932 nicht zu sprechen. Fest steht indes, dass Tibor Kneif mindestens eine achtvolle Trauerkerze verdient hat. Wie ich erst jetzt erfahre, ist Kneif bereits am 26. Juli 2016 in Berlin gestorben.

Tiburtius ‚Tibor‘ Kneif war ein Besonderer und hatte große Bedeutung in der deutschen Musikszene. Weithin geachtet, schrieb er 1981 eine wissenschaftlich präzise „Einführung in die Rockmusik“. Daneben rezensierte er die Musikszene an und für sich in vielfältiger Hinsicht und wurde als sachverständiger Autor mit einer besonderen Beobachtungsgabe und tiefgreifendem Verständnis musikkultureller Zusammenhänge geschätzt. Von ihm stammen Sätze wie der über den Schlagzeuger der Hamburg Blues Band und damaligen Interzone- und Escalatorz-Schlagzeuger Hansi Wallbaum, wörtlich zitiert: Wallbaum sei „der erfindungsreichste Schlagzeuger der Stadt, der rhythmisch wie farbig abwechslungsreiche und intelligente Schlagmuster entwirft“ (Tagesspiegel vom 27. Juni 1981, Artikel ganz unten, danke H.P.).

Rockmusik. Ein Handbuch zum kritischen Verständnis. (November 1991) von Tibor Kneif (Autor), Carl-Ludwig Reichert (Autor)
Rockmusik. Ein Handbuch zum kritischen Verständnis.
(November 1991)
von Tibor Kneif (Autor), Carl-Ludwig Reichert (Autor)

Sein Stil war sachlich, kühl und intellektuell, aber unprätentiös: Tibor Kneif schrieb international bedeutsame Werke über populäre Musik und nannte sie schlicht und ergreifend beispielsweise: „Rockmusik – Ein Handbuch zum kritischen Verständnis“. In der Musikforschung mit dem Kitsch auf wissenschaftlicher Ebene untersuchte er schon in den Sechziger Jahren den Kitschbegriff und fand, man würde in einem der geläufigen Nachschlagewerke vergeblich danach suchen.

Oder Rock in den 70ern (bei Rowohlt), Jahrgang 1980, das Sachlexikon Rockmusik, Jahrgang 1978. Aufsätze und Texte von Kneif werden in japanischen Universitäten gelesen, übersetzt freilich und geschätzt wie Sushi und Sashimi. Mit Wasabi, grün. Er kategorisierte das Bürgertum und separierte sorgfältig zwischen Alternativ- und Primärhörern von Rockmusik.

Der Primärhörer höre ausschließlich Rockmusik, da er zur Bildungsschicht keinen Zugang habe und weniger ästhetische Qualitäten habe. Für ihn sei Ehrlichkeit und Authentizität (Distanz des Musikers ggü. Vermarktung) entscheidend. 1978 definiert er Musik und ihre Eignung zur Betätigung motorischer Reflexe durch Stampfen, Händeklatschen und Tanzbewegungen. Die Last mit der Lust. Kneif, sagen welche, ignoriere kommerziell erfolgreiche Popmusik und beschimpfe sie.

Eine Musik aber, die man nach wenigen Takten durchschaut und deren Fortsetzung man sogar mit einiger Bestimmtheit voraussagen kann, wirkt ganz besonders aufdringlich, wenn sie in ihrer Bedeutungslosigkeit nicht sogleich verstummt, sondern vielmehr ihre Plattheiten weiter mit großer Selbstsicherheit ausposaunt. Solche Musik wird dadurch erst überhaupt erträglich, dass wenn ihr gar nicht richtig zuhört, sondern sie als unvermeidliche akustische Kulisse bloß im Unterbewusstsein registriert. Solche Musik und der ‚zerstreute Hörer‘ sind wie füreinander geschaffen. Die substanzlose Musik verdient ihren Hörer, der sie als Musik gar nicht wirklich ernst nimmt, und umgekehrt verdient der zerstreute Hörer gar nichts anderes als ein solches Plätschern, das ihm unaufhörlich und ohne Qualitätsabstufungen in die Ohren dringt. Dass die Umwelt bei uns allen vor allem durch Rockmusik verseucht wird und nicht etwa durch klassische, romantische oder moderne Werke,  hat seine Erklärung im Wesenszug der Rockmusik selbst, die mit dem genannten Prozentsatz schlicht Zivilisationsabfall und tönender Schund ist, den man nichts anders auf öffentlichen Plätzen und in Verkehrsmitteln ausstreut als leere Papiertüten und Zigarettenschachteln. (Tibor Kneif, 1982)

So eine Art Rock’n Roll- bzw. Popprofessor, strenger Wissenschaftler, lustiger Weggesell, einer den viele sehr schätzten. Kneif diente in den Sechziger Jahren in Frankfurt/Main beim berühmten Theodor Adorno in Sachen Misses Philosophie, Soziologie, Musiktheorie und Komposition. Derart von der Wissenschaft geküsst, sind etliche bedeutsame Eigenarbeiten in späteren Jahren entstanden.

Mit großer Terz (Intervall von drei Tonstufen; der dritte Ton vom Grundton aus), aber kleiner Septime (7. Ton der diatonischen Tonleiter, das Intervall der 7. Stufe), also in einer Kirchentonart des Mittelalters, verläuft etwa „I wanna be your man“. Das Schwanken zwischen großer und kleiner Terz, auch zwischen großer und kleiner Septime ergibt dabei nicht bloß Varianten ein und derselben Tonstufe, wie beim Blues (dessen Gesamtintonation hier freilich anregend gewirkt haben mag), sondern führt zu farbenreichen Wechselakkorden und bringt also ganz andere Konsequenzen mit sich, als in der schwarzamerikanischen Gattung. In „All my loving“, das in C-Dur steht, bildet der Ton b, der am Schluß der dritten Zeile erscheint („…always be true“), nicht bloß eine Abwandlung, eine Eintrübung von h, sondern er verselbstständigt sich zum Grundton des Akkords b-d-f und lenkt damit überraschend und vorübergehend nach der zweifachen Subdominante (die Unterdominante, die 4.Stufe einer Tonart) ab. Tibor Kneif in „Warum gerade die Beatles?“ (2000), hier

Im großen Ganzen haben wir Prof. Dr. Dr. Tiburtius ‚Tibor‘ Kneif eine beachtliche Fortentwicklung der empirischen Musikforschung weltweit aus deutscher Sicht zu verdanken. Im wissenschaftlichen Fokus war beispielsweise der Progressive Rock entstehungsgeschichtlich im Expertenstreit, wer nun der erste war, der derartiges zuwege gebracht hatte. Waren es die Beatles mit Sgt. Pepper´s Lonely Hearts Club Band? Nein, Frank Zappas Absolutly free erschien einen Monat vorher. Dafür waren die Beatles früher in den Charts und trotzdem verheißt im Grunde für die Musikwissenschaft schon Zappas Erstling Freak Out den Beginn einer nun folgenden Successstory vom so genannten Konzeptalbum. So stritten die Gelehrten.

H.P. Daniels erinnert sich an Seminare Ende der Siebziger Jahre in Berlin: „Eine auffällige Eigenart in seiner Aussprache der deutschen Sprache war es, dass er an Wörter, die auf einem Konsonanten endeten, gelegentlich noch ein „e“ angehängt hat. Wie man’s auch von den Italienern kennt. Und in der Aussprache englischer Namen war er auch nicht so ganz firm. Ich erinnere mich noch, wie er von der englischen Komikertruppe „Montie Pühtonne“ sprach. Lustig auch, wenn er einen Seminarteilnehmer, der von einer Dschibsen-Gitarre sprach, beflissentlich verbessert hat: „Gib Sonne! … es heißte: Gib Sonne!“

Man gestatte eine zugespitzte Formulierung: Rockmusik würde auch dann existieren, wenn es in der Welt nur die Instrumente Gitarre, Bass und Schlagzeug gäbe. (Kneif, Rockmusik – Handbuch zum kritischen Verständnis. Reinbek bei Hamburg, 1982.  S. 70.)

Tibor Kneif mischte immer ganz vorn mit. Macht jetzt Tiefenforschung am Rock´n Roll-Himmel und richtet das Höhenmeter neu aus. Farewell, Tibor. Du hast die Welt ein Stück verständlicher gemacht. 

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