Oh, Papa, ein Klavier, ein Klavier. (frei zitiert nach Loriot) – Und was für eins…
Man tut dem eigenen Empfinden und dem über sich hinaus wachsen keinen regelrechten Gefallen, wenn man ab einem gewissen Lebensalter anfängt, nur noch zurückzuschauen. Zunehmend schwieriger noch nach vorn zu schauen, empfindet der älter werdende Musikkonsument, dass Musik zu konsumieren ja schon etwas Widerwärtiges in sich trägt. Denn die Vergeistigung aller menschlichen Intelligenz, der Verstand, rät einem davon ab, sich lediglich nur als passiver Konsument selbst begreifen zu wollen.
Einer anderen Lebensphilosophie folgend ist genau das Gegenteil richtig. Musik ließe sich hervorragend konsumieren und daran sei nichts zu beanstanden, wenn man es zur Kontemplation nutzte. Sich fallen lassen, die Augen schließen und lass Musik auf dich herein prasseln, Alter, das kann ja auch ganz irre schön sein.
So in etwa übrigens geht es mir mit der Musik von Thomas Bierling, auf dessen menschliche und hochmusikalische Existenz ich im Internet aufmerksam wurde. Man weiß ja letztendlich nie, mit wem man es zu tun hat, wenn man Ikonen anklickt, Freundschaftsanfragen beantwortet und ach, überhaupt, Mann: Ich schaff mir keine kleinen Kinder an.
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Das nennt man ein gelungenes Konzeptalbum. Die Titelnamen der Stücke sind äußerst schräg, ja abgefahren, allerdings: Wer bereit ist, sich ein bisschen Bluna zu fühlen bzw. die psychedelische Komponente bereit ist auf sich wirken zu lassen, findet das immer verständlicher, weil gut gelungen. Vielleicht sind solche Titelnamen auch die Beseitigung von Denkverboten mit angemessenen Mitteln.
Wir hören hier zu Testzwecken nachdem uns zwei Auskopplungen bereits Aufmerksamkeit gestraft hatten, einen nicht ganz allgemein üblichen, rational und verständlichen Musiker am großen Flügel erwarten zu dürfen, in einem Studio großartig aufgenommen, der sich dem freien Spiel der Kräfte hingibt. Der einem das freie Spiel der Säfte nahelegt und auf das Innere in sich selbst zu hören Wert legt. Nachdenklich.
Leberwerte, Rhythmusstörungen, Freie Radikale oder der Body Mass Index – ab einem gewissen Alter wird man plötzlich mit Themen konfrontiert, die ein paar Jahre zuvor höchstens Anlass für Späße gewesen wären. Und so unternimmt Thomas Bierling mit „INNEN|WELT“ eine launige musikalische Reise in die Abgründe der Medizin, die ihn zu ganz erstaunlichen Jazz-Improvisationen und mutig-provokanten Grenzgängen in die klassische Musik inspirierten. Über „INNEN|WELT“ von Thomas Bieling
Wir denken sofort an Gunter von Hagen und seine streitbaren, ethisch im Diskurs stehenden Bein- und Brustscheiben, wir denken an aufgeschnittene Menschen, deren Innerstes uns letztlich Angst macht, weswegen auch der amtliche Kulturbetrieb in vielen deutschen Ständen die Ausstellungskoloraturen von von Hagens erst auf und dann vom Spielplan erlaubter Kulturbeflissenheit nimmt.
Thomas Bierling hat sich 2005 drangemacht, das deutsche Grundgesetz musikalisch umzusetzen. Menschenwürde sei Dank, ist die Ungewöhnlichkeit bereits dieses Versuchs zumindest erwähnenswert.
Mit der 2012 auf dem Yeotone-Label erschienenen CD INNEN|WELT erfahren wir als Musikinteressierte nun vom Leberwert, der Anamnese, dem Bodymassindex, Rhythmusstörungen, Zuckerspiegel und vielem mehr: Letztlich sind die einzelnen Stücke auf der CD freie Radikale. Sie suchen sich ihren Weg und brechen dann heraus, in jener ruhigen Minute, in der wir endlich einmal Zeit erübrigen können, offenen Ohres zu lauschen, was sich Thomas Bierling ausgedacht hat, um den Menschen vor die Füße zu legen, wie eine Reise durch den eigenen Körper mannhaft zu sein hat.
Freie Improvisation gleicht einer Reise mit unbekanntem Ziel, das sich erst Schritt für Schritt herauskristallisiert – wenn es denn eines gibt. Es ist immer wieder ein Abenteuer, einfach loszuspielen und gleichsam aus dem Nichts nach und nach musikalische Strukturen mit ungewissem Ausgang zu entwickeln, ohne sich in Beliebigkeit oder reiner Klangmalerei zu verlieren. Ob vor Publikum oder den argwöhnisch lauschenden Mikrofonen des Studios, die jede noch so kleine Nuance erfassen, gleicht einer Operation am offenen Herzen. Über „INNEN|WELT“ von Thomas Bieling
Es ist ein vielschichtiges Spiel, es ist perlatorisch, von Sauerstoff durchsetzt und ohne jede innere Verkalkung, es ist frei, schlägt Bögen und wechselt von Sentenz zu Sentenz die Cluster, Arpeggien und Glisserandini wie Eiscreme auf Schlagsahne mit Amerettini.
Eine ganz tolle, absolut hörenswerte CD ist ihm da gelungen.
Aus der Scheibe hören wir uns während wie dies lesen zwei Stücke aus der rezensierten CD an. Die gesamte CD ist ein Genuss. Mag sein, ich bin klavieraffin, habe ich doch kürzlich Lorenz Kellhuber wieder mal über den grünen Klee gelobt, hier.
Mein Gesamtergebnis kurzgefasst
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