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Melodie & Rhythmus #62 Tonfilmschlager II Notenheft
Melodie & Rhythmus #62 Tonfilmschlager II Notenheft


Ricky Shayne – Mamy Blue (ZDF Hitparade 18.12.1971)

Frage

In der Spezialistengruppe Musikerwitze stellte das Neumitglied Hugo (Name geändert) folgende Frage an 35.000 Mitglieder (Text gekürzt):

Warum haben so viele Musikfreunde (ich eingeschlossen) eine Abneigung gegen „Schlager“? Sind es die eher flachen Texte? Naja, da zieht die Rockmusik durchaus mit, viel übler zuweilen oft. Sind es die eingängigen Melodien? Die mitreißen, die im Grunde den nächsten Ton schon erwartbar vorgeben? Das ist im Blues nicht anders. Und das Getüddel der Singer/Songwriter ist oft keineswegs weniger klischeehaft, weder textlich, noch melodisch. Das komische ist, selbst einer wie ich, der kein Radio hört, nicht auf Volksfeste geht – man kennt trotzdem alle Schlager. Selbst wenn man im psychedelischen Jam ein Schlagermotiv zitiert, dann ist das ein Garant dafür, dass jetzt alle abgehen werden. Das IST witzig. Wann wird Kunst zum Kitsch oder umgekehrt? Was passiert damit in einem selbst? Vllt. auch in dem Zusammenhang: Warum finden wir Punkrocker – wenn nicht immer geil, aber ok – aber eine nur halb so schräg singende Christencombo gruselig? Was macht das mit uns? Was ist das, was da triggert? Ist es, weil den einen dabei der Witz fehlt, die anderen das Unperfekte zum Witz machen, in dem man auf sich knallt, wie in einem psychedelischen Jam? Ist es vllt. diese gekünstelte Perfektionalität? Die Show, die allzusehr offenbart, dass sie eine solche ist? Weil die sich doch gefälligst hinter sich verbergen muss? Bricht ein Schlager mit dieser Regel, ist damit gar „psychedelisch“ – gerade, weil er damit weh tut? Musikalisch gesehen sind Schlager – und auch manch andere Popstücke – eine Aneinanderreihung von sehr eingängigen Motiven. Das „Ta-ta-ta-Daaa!“ aus Beethovens fünfter ist sicher in der Tiefe viel filigraner herausgearbeitet, als das „Atemlos-durch-die-Nacht“ der Helene; wobei letzteres aber auch noch mehr musikalische Tiefe hat, als so mancher herumleiernde Popsong. Vllt. verdichtet sich das sogar auf die witzig-gewitzte Frage: Was ist Musik für euch?


Mary Roos – Nur die Liebe läßt uns leben – Eurovisión 1972

Antwort

Hartmut von Fallersleben, Musiker, Komponist, Musical Director international bekannter Künstler (* Name wurde geändert) kann jetzt nur für sich sprechen, aber dann doch mit einer gewissen beruflich bedingten Expertise. Er schreibt uns dazu ins Gesangsbuch:

Am Schlager per se ist nichts falsch, nicht an der Intention, nicht an der Ausrichtung auf eine bestimmte Zielgruppe, das geht alles in Ordnung.

Warum mich aber moderner Schlager trotzdem meistens verjagt liegt an einem ganz seltsamen Phänomen der Neuzeit. Schlager war nämlich nicht immer das, was er heute ist.

Irgendwo auf dem Weg von den frühen Siebzigern bis Anfang der Neunziger ist in Zeitlupe ein Konsens entstanden, dass sich Schlager gefälligst bitteschön stets auf den kleinsten musikalischen Nenner zu fokussieren hat. Was Anfang der Siebziger noch durchaus komplexe und pointierte Arrangements für verschiedenste Ensembles waren, wurde Stück für Stück immer weiter heruntergebrochen.

– die Harmonien oszillieren zunehmend zum allerkleinsten Einmaleins Tonika Dominante Subdominante und für die ganz mutigen eine Mollparallele (aber Achtung, sparsamst dosieren!)
– Die rhythmische Struktur konnte früher alles mögliche sein. unterschiedlichste Patterns, auch ein 6/8 war erlaubt – und dann ist es über die Jahre immer mehr zu sturem four on the floor umgezogen. Je skihüttiger, desto mitklatschiger.
– Im selben Zeitraum sind auch die realen Instrumente zunehmend durch Synthetik ausgetauscht worden. Was in den 80s noch der Reiz des „neuen“ (hui, ein Synthie, hui, ein Drumcomputer!) sein konnte, wurde zunehmend zum Dogma, denn während der Rest der Musik sich nach der 80s Liebe zur Elektronik wieder geöffnet hat, und heute wieder die gesamte Bandbreite von kompletter Elektronik über verschiedenste hybride Ansätze bis zu komplett „a la nature“ verfügbar ist, ist der Schlager da irgendwie hängen geblieben. Da musste man nicht mit nem realen Schlagzeug ankommen – da ist der Skihüttenwumms der Bassdrum nicht statisch genug. oder was immer die Ratio dahinter sein mag, wenn es eine gibt.
– Parallel zur stetig fortschreitenden Herunterbrechung der Musik ist dasselbe mit den Texten passiert. Das Vokabular immer weiter reduziert. die Thematiken immer weiter eingeengt. sämtliche Kanten abgeschliffen.


Frank Schöbel – Wie ein Stern 1971

– Vorletzter Punkt, kleine Extrapointe: passend zur reduzierten Thematik ist auch der Gestus, mit dem Schlager vorgetragen wird, immer weiter zusammengestaucht worden. Wo früher allerlei Emotion möglich war, von Fröhlichkeit bis zu tiefster Melancholie (nur *gross* musste die Emotion sein), herrscht heute der Konsens, dass Schlager gefälligst ultra-fröhlich zu sein hat, und zwar bitte nonstop, und bitte im Extrem. und so kriegt man heutigen Schlager in 9 von 10 fällen mit einem wie in Botoxbeton gegossenen Übergrinsen präsentiert, dass es manchmal schon Psycho ist. Die einen haben den Botox einfach hardwareseitig installiert, der Rest muss eben tapfer die Backen hochziehen bis der Auftritt vorbei ist.
– Und es hilft natürlich auch nicht, dass das Schlagermedium Nummer 1, das Fernsehen, irgendwann beschlossen hat, dass man keinen Bock mehr hat auf auch nur minimalste Live-Technologie. früher gabs viel live, sogar die Musik, und selbst ein Fliessband wie die ZDF Hitparade war zumindest prinzipiell live zu Instrumentalplayback gesungen. heute: fast durch die Bank Playback. da spart man direkt zwei Toningenieure. was ich jetzt nicht aus liebe zu Toningenieuren sage, sondern um zu betonen, dass das nichtmal unbedingt an den SängerInnen liegt – viele von denen sind heute wie damals gelernte Profis mit absolut livetauglicher intonation. Spielt im Fernsehen aber keine Rolle mehr, wenn man doch einfach „die CD laufen lassen kann“ (im übertragenen Sinne, wenn man von wav files in Protools redet verstehen sonst manche nicht, was gemeint ist 🙂 )

Das mal so als kleine Sammlung. deswegen gibts viele, die von heutigem Schlager hart getriggert sind, während sie sich aber problemlos selig lächelnd alte Schlager reinpfeifen, sich an den süßen Melodien und der grossen Emotionen besaufen können.

Was nun über diesen langen Zeitraum die Schlagerwelt zu dieser konstanten Reduktion getrieben hat…da gibts sicherlich viele kluge Antworten.

Natürlich, disclaimer: Sicherlich gibts immer Ausnahmen von der Regel. nix ist nie absolut. Aber so wie die frage hier gestellt wurde, ist es eben sehr wohl eine Antwort, wenn man diagnostizieren kann, das zumindest die erschlagende statistische Mehrheit des Schlagerangebots dergestalt ins allerkleinste Einmaleins umgezogen ist.

(Ende)

Deutscher Schlager: Es fährt ein Zug nach Nirgendwo, bald bist auch Du und ich allein.


Christian Anders- Es fährt ein Zug nach Nirgendwo 1972

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