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13.06.23 - Jürgen Grage (Buch)
13.06.23 – Jürgen Grage (Buch)

Ein Buch, ein Buch: Ich lese nicht mehr so viel in papierenen, kartonierten Loseblattsammlungen (gebunden). Wenn ich es tue, hat es eine lange Vorgeschichte, denn Stapel von most-wanted-Büchersammlungen säumen meine Vorbereitungstischchen mit Lesewerk.

Erste Eindrücke:
Das Buch habe ich von Olaf (CEO vom YS) vor einiger Zeit erhalten.

Ich kannte Gerlinde und Jürgen einige Zeit und saß mit ihnen kulturvertretungshalber ordnungsgemäß am Tisch des Grauens im Yorkschlösschen. Beide sind seit 2020 bereits verstorben, als ich das Buch im Zusammenhang mit meinem zu seltenen Besuch auf der Yorkmeile erhielt.

Jürgen streiflichtert in dem Buch in einer Art Parvenüritt durchs eigene Leben, geboren in HH, mit 13 übernachtet er bereits bei einer Nutte (ü/40) am Hamburger Harfen (einer Harfennutte), um seiner Stiefmutter zu entgehen, die ihm die Ohren langzieht und als er sich einen runterholen lassen möchte. Das ist nicht verkehrt. Oder wie Jürgen sagen würde: Mir war es recht.

Als Maat und Schiffssteward verdingt er sich im Anschluss an acht Schuljahre und bereist „Nie wieder Indien“, „Oh wie schön ist Panama“-Kanal und Bordelle jener Zeit, auf Schiffspassagen mit hartem Tripper, Peniscillinspritzen und einem Lebenshunger, der zum Bersten taugt. Die acht- bis zwölfjährigen Kinder in den Puffs von Bombay bedauert er und flüchtet nach Zahlung der Apanage. So hat er nicht gewettet. Sein Leben, Pimpern und der Suff: Grage und der Schalk im Nacken, fügt man gedanklich hinzu, hat scharfkantige, präzise Vorstellungen davon und zwinkert heftig mit den Wimpern.

Entsetzen Grauen (gif)

Der Tisch des Grauens ist im Außen-/Raucherbereich des Yorkschlösschens eine Berliner Institution. Es gibt Buletten und Wiener Schnitzel, das nur am Rande, der Vollständigkeit halber.

Später mäandert er durch Nachkriegsberlin der Sechziger und Siebziger, macht Halt an illustren Tresen, löst Tageseinnahmen für privat auf, verreist mit Freunden, um abzuschalten. Jenes Berlin, das auferstanden ist aus Ruinen. Das Curriculum vitae seines Lebens ist eine Auflistung von Kneipen, Biertrinkerhallen. Als Trödel-Jürgen, der Haushaltsauflösungen durchführt, schafft er sich weitere Standbeine. Wertstoff-Resteverwertung für Ankaufs- und geschätzte Verkaufspreise, zwischendrin winken immer beachtliche Deltas (Reinerlöse). Er verstrickt sich unbeabsichtigt in Mordermittlungen der Berliner Kriminalpolizei. Zwei an- und weiterverkaufte Duellierpistolen aus dem 18. Jahrhundert spielen eine Rolle. Im ROXY in der Berlin-Schöneberger (Friedenauer) Hauptstr. entsteht eine ganze Etagendecke komplettverputzt und Vater Fiete reist aus Hamburg an, um ihr den letzten Schliff zu geben. Geheime Finanziers reichen 125.000,- Deutschmarks an Jürgen weiter und alle hoffen auf Profit im Roxy. Man könnte hier Frank Zappas Discographie bemühen und schonungslos titeln: „ROXY & elsewhere“: So geht der Titel eines Livealbums von „Uns Frank“ und so geht es vergnüglich weiter. Village of the Sun. Du alter Penguin in Bondage, yeah.


Frank Zappa – Penguin in Bondage (from „Roxy & Elsewhere“)

Zittert wie ein Pinguin, wenn die Batterie versagt

Herr, du musst sie durch ein echtes Feuer hüpfen lassen,
mit ein paar Kleenex um einen Kleiderbügel gewickelt

Sie ist genau wie ein Pinguin in Bondage, Junge
Oh ja, oh ja, oh…

Du weißt, dass es ein Pinguin sein muss, der da unten ist
Wenn du dieses schreckliche Geschrei hörst und kein anderer da ist,
keine Vögel in der Nähe
(Sinngemäß übersetzt: Penguin in Bondage – Frank Zappa)

Die Texte sind kurz, frappant und es bleiben ikonische persönliche Bekanntschaften seinerseits als scharfgezeichnete Profile vergangener Tage übrig, so wie Fiete, Jürgens Vater. Auch das Yorkschlösschen kommt auf einer kurzen Chimäre seiner letzten 15 Lebensjahre prägnant vor. DER LADEN BRUMMT, schreibt er. Gerne gehen er und Gerlinde jeden Tag „einen zwitschern“. Wenn das Buch noch zu haben, ist es lesenswert. Ich habe gestern Abend drei Viertel verschlungen und wachte morgens ohne Katerstimmung im Kopf auf. Ich hatte nicht gesellschaftsgetrunken, aber konnte mir derartiges durchaus vorstellen. (Kleine Kunstkritik).

Am Buch hat mutmaßlich Wolfgang Rügner mitgewürgt, als Komparse, Schreibattaché und Schaffenscoach. Sehr schön.

Durch die vielen Erfahrungen verfügte Jürgen über eine phänomenale Menschenkenntnis, die ihm half, in Sekundenschnelle abzuschätzen, ob ein neuer Gast zur Runde passen könnte. Fiel der Test positiv aus, gabs ein paar freundliche Worte und schon sah sich der Neue mitten in einer Gemengelage aus Hosenträgerverkäufer, Kunstmaler, Staatsanwalt, Türsteher, Religionsprofessor, Fernfahrer, Dirigent usw. sitzen. Hautfarben und Nationalitäten wie immer bunt gemischt. (Wolfgang Rügner, a.a.O., Link unten)

#Update – Frank Zappa hat nie Grages Leben mitgewürgt, an dessen Nerven gezerrt. Er war im ROXY in Kalifornien, auch anderswo. Der Penguin in Bondage steht für bemerkenswerte Sexpraktiken, da schließt sich der Uigurische Kau-Gragekreis.

#Update – Wolfgang Rügner teilt mit, die bereits zweite Auflage des Buchs sei vergriffen. Wer öffentliche Bücherregale (in Berlin zur Zeit ca. 85 Stück) stehen sieht, ist gut beraten, den Grage mitzunehmen. Eine skurrille Kuriosität mit Schmackes.

(Ruht in Frieden – Jürgen & Gerlinde Grage)

Weiterführend

Paradise Café (Village of the Sun)


Frank Zappa – Village of the Sun (from „Roxy & Elsewhere“)

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